Lesen mit Nebenwirkung

von Jutta Siefarth in DiE IDEEN, Gedanken

Was macht ein Buch mit mir? Und was mache ich mit dem Buch?

"Bücher kommen uns sehr nah (...), viel näher als Bilder oder Filme. Sie kriechen in unsere Köpfe, verändern unsere Gedanken, wecken Bilder, erzeugen Phantasien. Das ist das Schöne an ihnen, aber eigentlich ist es eine Zumutung. Und wenn dann ein Autor nicht ehrlich ist, mit Tricks arbeitet oder uns Bilder aufzwingt, die wir nicht in unserem Kopf haben wollen, dann ist es, als würde er uns gegen unseren Willen am Gehirn operieren. Ein Kunstwerk, das Ihnen nicht passt, ignorieren Sie einfach, aber ein Buch, das Sie einmal gelesen haben, werden Sie nicht mehr los."

Das schreibt Peter Stamm in seinem neuesten Roman "In einer dunkelblauen Stunde" (S. 123).

Jede und jeder von uns liest ein Buch anders,
auch wenn wir das Identische lesen.

Wohl wahr, dass uns ein Buch verändern kann, aber das ist nur die eine Seite. Denn auch wir Lesende machen ja etwas mit dem Buch: Wir eignen es uns an, setzen die darin entworfenen Bilder in unseren eigenen Bezugsrahmen, in unsere eigene Erfahrungswelt. Jede und jeder von uns liest ein Buch anders, vor dem Hintergrund ihrer oder seiner eigenen Geschichte – auch wenn wir das Identische lesen. Jedem wird etwas anderes wichtig sein, jede sich in einem anderen Detail wiederfinden. Und sich später an dieses Detail erinnern. Interessante Frage: Würde der Autor dieses Detail, vom Leser geschildert, wiedererkennen?

Mit den Fantasien wird es sogar noch persönlicher. Da kann auch der Autor nicht wissen, welche Lawinen er wohl lostritt ... Und doch verweben sich unsere Fantasien mit dem Stoff des Buches, bereichern ihn, hauchen ihm Leben ein – ein Stück unseres Lebens. Deshalb ist das Buch, einmal gelesen, für uns nicht mehr dasselbe, das der Autor geschrieben hat. So, wie der Autor mit seinem Buch unsere Gedanken verändern mag, so verändern wir Lesende mit unseren Erfahrungen den Inhalt des Buchs und machen es zu einem Stück von uns. Im Idealfall ist es also eine enge Symbiose, die sich da während des Lesens entwickelt.

Im Idealfall ist es eine enge Symbiose,
die sich da während des Lesens entwickelt.

In einem stimme ich Peter Stamm (oder vielmehr seiner Romanfigur, der er diese Aussage in den Mund legt) übrigens nicht zu: Genauso, wie ich ein Kunstwerk ignorieren kann, das mir nicht passt, kann ich ein Buch zur Seite legen, das mir nicht gefällt. In beiden Fällen aber bleibt ein Widerhaken in meinem Bewusstsein stecken: Denn es muss ja einen Grund geben, weshalb es mir nicht gefällt. Ganz ohne Nebenwirkungen setzt man sich Kunst und Literatur eben nicht aus.

WordPress Cookie-Hinweis von Real Cookie Banner