Der Social-Media-Circus

von Jutta Siefarth in DiE IDEEN, Gedanken, Kommunikation

Meide die Masse! Das riet schon der römische Philosoph Seneca.

Dieser Tage (März 2023) läuft im Kino ein eher satirisch als historisch gemeinter Film mit John Malkovich an über Seneca, den römischen Philosophen und – grandios gescheiterten – Lehrer Kaiser Neros. Ein guter Anlass, seine Schriften mal wieder zur Hand zu nehmen, in diesem Fall die "Briefe an Lucilius". Hat uns der Stoiker Lucius Annaeus Seneca (1 v. Chr. – 65 n. Chr.) heute, nach 2000 Jahren, überhaupt noch etwas zu sagen?

In den Sozialen Medien werden Tag für Tag Menschen an den Pranger gestellt, während die Meute über sie herfällt.

Ja, und ob! Ich brauche nicht lange zu lesen, bevor ich im 7. Brief fündig werde:

"Verhängnisvoll ist der Umgang mit vielen. Es gibt niemanden, der uns nicht irgendein Laster empfiehlt oder aufdrückt oder ohne unser Wissen anhängt. Jedenfalls, je größer die Volksmenge ist, unter die wir uns mischen, umso größer ist die Gefahr."

Was er meint, veranschaulicht Seneca anhand eines Besuchs im Circus, wohin er sich auf der Suche nach etwas Entspannung "in Erwartung von Scherz und Witz" begeben hatte. Doch was er geboten bekam, war die Verrohung der Masse: "Alle früheren Kämpfe waren Barmherzigkeit; jetzt verzichtet man auf Possen, und es ist der reine Menschenmord. (...) Wozu Harnisch? Wozu Fechtkünste? All das verzögert nur den Tod. Frühmorgens werden Menschen den Löwen und Bären, mittags ihrem eigenen Publikum vorgeworfen."

Der Vergleich drängt sich auf: Unser heutiger Circus sind die Sozialen Medien, in denen unter anderem auch Tag für Tag Menschen an den Pranger gestellt werden, während die Meute über sie herfällt und sich gegenseitig an- und aufstachelt. Wo viele den vorherigen Kommentar an Hass und Hetze noch zu überbieten versuchen (und das womöglich auch noch originell finden). "Was glaubst du wohl", fragt Seneca seinen Briefpartner, "widerfährt diesen Charakteren, die in der Öffentlichkeit Angriffen ausgesetzt sind? Du musst entweder nachahmen oder hassen."

Beides aber, so seine Lehre, sollte man vermeiden: "Werde nicht ähnlich den Bösen, weil sie viele sind, und nicht feindlich den vielen, weil sie anders sind!"

Und als Konsequenz daraus: "Ziehe Dich in Dich selbst zurück, soweit Du kannst! (...) Dies, mein Lucilius, musst Du in Deinem Herzen verwahren, damit Du ein Hochgefühl verachtest, das aus der Zustimmung der Menge kommt. Viele loben Dich: Hast Du etwa einen Grund, Dir zu gefallen, wenn Du so einer bist, den viele begreifen? Nach innen seien Deine Vorzüge gerichtet!"

"Werde nicht ähnlich den Bösen, weil sie viele sind,
und nicht feindlich den vielen, weil sie anders sind!"

Vielleicht sollten auch wir diesen Rat beherzigen und uns vor unserem nächsten Post einmal fragen, wen wir damit beeindrucken wollen, wessen Zustimmung wir da suchen, und ob das wirklich erstrebenswert ist. (Mal ganz abgesehen von der Frage, ob der Post nicht auch inhaltlich entbehrlich wäre.) Vielleicht täte es auch uns gut, einmal innezuhalten (uns in uns selbst zurückzuziehen) und uns zu fragen, welche Menschen wirklich wichtig für uns sind, und auf wessen Meinung wir tatsächlich etwas geben – und warum.

Übrigens war Seneca selbst kein Heiliger, wie auch in dem eingangs erwähnten Film sehr deutlich wird. Wasser predigen und Wein trinken, Verzicht fordern und Luxus leben – schon vielen seiner Zeitgenossen galt er als nerviger Opportunist, der stets seinen eigenen Vorteil suchte und sein Vermögen geschickt zu vermehren wusste. (So viel sei verraten: Ein gutes Ende nahm es mit ihm nicht.) Aber deshalb können seine Lehren doch trotzdem bedenkenswert sein. In Zeiten von Cancel Culture ein revolutionärer Ansatz, schon klar. Aber das ist wieder ein anderes Thema ...

Foto: rawpixel.com/Adobe Stock

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